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Die Straßen in Flammen, und sogar die Köche wandern aus:
Frankreichs Stern sinkt, weil die einstige Weltmacht an ihren heroischen
Illusionen festhält.
Ein Pamphlet Von Benjamin Korn
Es war ein Nein wie ein Gongschlag, als am Abend des 29. Mai 2005 die
Stimmen in Frankreich ausgezählt wurden. Die Franzosen hatten der
europäischen Konstitution den Todesstoß versetzt. Die Leitartikler
der großen Zeitungen des Kontinents waren entsetzt und suchten
verzweifelt nach Gründen, am ratlosesten aber waren die französischen
Kommentatoren selbst. Sie hatten doch stets für ein klares Ja votiert,
die Altlinken von Libération, die Halblinken von Le Monde, die
Rechten des Figaro. Alle in der Nationalversammlung vertretenen Formationen,
sogar die Grünen, hatten zum Ja aufgerufen.
Auch das Fernsehen war unzweideutig auf der Seite des Ja, von den Philosophen,
den Schauspielern und berühmten Sportlern ganz zu schweigen. Selbst
Zinédine Zidane, der unwiderlegbare Beweis dafür, dass es
einen Gott gibt und dass er in Frankreich Fußball spielt, rief
zu einem Ja für Europa auf. Alles umsonst. Frankreich stimmte mit
Nein, und doch hatte nur eine bizarre Koalition von Splittergruppen,
ein Konglomerat von Kommunisten und Faschisten, von Jägern und
Fischern, von »Souveränisten« und Altgaullisten, die
um Frankreichs Weltgeltung zitterten, fürs Nein geworben.
Ein gefesselter Gulliver, eingeschnürt von 24 europäischen
Zwergen
Was bedeuteten alle diese kleinen Neins, die sich zu einem riesengroßen
Nein auftürmten? Es wurde von den Kommentatoren wieder in viele
kleine Neins zerlegt, die, addiert, das große Nein erklären
sollten, die aber weniger mit der europäischen Konstitution zu
tun hatten als mit der französischen Innenpolitik: ein großes
Nein zur Arbeitslosigkeit, die seit 15 Jahren in Frankreich wütet.
Ein Nein gegen den Absturz der Mittelklassen und den Zerfall der Gesellschaft
in Steinreiche und Bettelarme. Ein Nein den korrupten politischen Eliten,
deren Machenschaften in unzähligen Betrugs- und Bestechungsprozessen
aufgedeckt wurden, ein Nein dem Präsidenten Chirac, der es allein
seiner Immunität verdankt, dass er nicht wegen betrügerischer
Zuteilung von Milliardenmärkten vor die Richter geschleift wird.
Natürlich auch ein Nein gegen die Brüsseler Bürokratie,
ein Nein zur Vernichtung des authentischen Camemberts und gegen den
Niedergang des französischen Weins; ein Nein gegen den grenzenlosen
Appetit der chinesischen Textilindustrie und die drohende Verspeisung
von Danone durch Pepsi Cola. Ein Nein zum stagnierenden Realeinkommen
und zu den rasant steigenden Preisen.
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Was war geschehen? Ein Nein zur europäischen Konstitution kann
es nicht gewesen sein, denn kaum einer hatte sie gelesen und noch weniger
hatten sie verstanden. Es schien, den Statistiken zufolge, einige Anhaltspunkte
zu geben: Die Handarbeiter hatten mehr mit Nein gestimmt als die Kopfarbeiter,
die Bewohner der Provinz mehr als die Bewohner von Paris, die Armen
mehr als die Reichen, die Jungen mehr als die Alten. Aber das erklärte
nicht, wieso es gerade in den homogensten Gruppen zu entsetzlichen Auseinandersetzungen
gekommen war: Ehen waren an einem Ja oder Nein zerbrochen, Freundschaften
auseinander gekracht.
Frankreich, das sich ohnehin seit Jahren in einer permanenten Katastrophenstimmung,
hierzulande sinistrose genannt, befindet, war am Rande eines Nervenzusammenbruchs.
Den Franzosen lag das Nein auf der Zunge, ein Nein zu ihrer Regierung,
die wie paralysiert auf ihr Volk starrte (das nicht minder bedrohlich
zurückstarrte, weil es keine Reformen will), ein Nein zu einem
nebulösen Europa, ein Nein zum Schreckgespenst Amerika, ein Nein
zum Aufstieg Chinas, ein Nein zur Welt, ein fast metaphysisches Nein.
Die Angst vor der Zukunft schwang die Peitsche in Frankreich. Und diese
Angst gebar in diesem einst so generösen Land, das seit 200 Jahren
alle politisch und rassisch verfolgten Menschen Europas mit offenen
Armen aufgenommen hatte, die Monster Feindseligkeit, Engherzigkeit,
Fremdenhass. Die Wahlen zur EU-Verfassung wurden zu einem nationalen
Psychodrama.
Die miesesten Gefühle brachen sich Bahn, und der »polnische
Klempner« wurde zum Symbol einer beispiellosen xenophoben und
nationalistischen Hetze. Er gefährde einheimische Arbeitsplätze,
doch kein Politiker hatte die Kraft, mit einer überzeugenden Rede
auf die jüngst errungene Freiheit der Völker Europas, auf
die alte Freundschaft mit Polen, auf die kosmopolitische Tradition Frankreichs
und seine legendäre Großherzigkeit hinzuweisen, um endlich
hinzuzufügen, dass niemand willkommener sei als der polnische Klempner
in einem Land, in dem es an Tausenden von Handwerkern fehlt, an Malern,
Tischlern und Maurern. Der Sieg des Nein hat Frankreich nicht mächtiger
gemacht, sondern geschwächt. Es kam wie ein Bumerang zurück.
Chirac wurde zur Schießbudenfigur aller europäischen Karikaturisten,
die Nachbarstaaten, die mit Ja gestimmt hatten, fühlten sich verraten,
und Frankreich verlor den Kampf um die Olympischen Spiele - ausgerechnet
gegen die Engländer mit ihrem so andersartigen »liberalen
System« (in Frankreich ein Schimpfwort für entfesselten Kapitalismus),
das vor Vollbeschäftigung und Energie platzte. Auf das Nein Frankreichs
zu Europa folgte ein Nein der Welt zu Frankreich.
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