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Nicht die Alliierten, sondern die französische Armee hätte
Frankreich und, mit Hilfe der Pariser Bevölkerung, Paris befreit.
De Gaulle wollte mit dieser manifesten Lüge der angeschlagenen
Moral der Franzosen auf die Beine helfen. Er hatte Erfolg damit und
ist insofern für die systematische Verleugnung der Wirklichkeit
in der Politik verantwortlich. Frankreich bezahlte dafür einen
hohen Preis.
Die französische Politik hat seit dem Zweiten Weltkrieg, als das
Kolonialreich zusammenbrach, ein großes Problem mit der Wahrnehmung
der Realität, genau genommen seit eben jenem unvergesslichen 25.
August 1944, als de Gaulle, vier Tage vor den Alliierten, in Paris einmarschierte
und den Franzosen weismachte, sie, die alte Weltmacht, hätten den
Krieg zuletzt noch heroisch gewonnen. An diesem Tag versäumten
sie es, der Wahrheit ins Auge zu sehen, die darin bestand, dass sie
den Krieg niederschmetternd verloren hatten, dass sie keine Weltmacht
mehr waren und als solche von den Amerikanern, denen sie überdies
noch ihre Befreiung verdanken und die sie seither mit einer pathologischen
Hassliebe verfolgen, die immer mehr in Hass übergeht, abgelöst
wurden. Aber je mehr die Geschichte voranschreitet, je mehr der Einfluss
Frankreichs in der Welt zusammenschrumpft, desto stärker hält
es an der Illusion seiner Besonderheit fest.
Stattdessen tummeln sich die Söhne und Töchter der einflussreichen
Familien, die sich schon in der Ecole Nationale de l'Administration
(ENA) duzten und in ihrem Leben noch kein Etagenklo gesehen haben, in
der Nationalversammlung, im Senat, in den Aufsichtsräten der großen
Betriebe und Banken, in den Präfekturen, den Gas- und Elektrizitätswerken,
in den höchsten Richterämtern und natürlich in den Ministerien
und den ersten Posten der Republik. Frankreichs Direktoren und Minister
werden von Institutionen ausgebildet, die dem Volke unzugänglich
sind. Sie sind Spezialisten für nichts und können alles verwalten,
können perfide Briefe im elegantesten Französisch formulieren,
einem staatlichen Kunstmuseum, der Post oder der Eisenbahn, France Telecom
oder einer Waffenfabrik vorstehen. Das Verteidigungsministerium ist
vergeben? Macht nichts, ich werde Erziehungsminister, Landwirtschaftsminister,
Kulturminister.
Vetternwirtschaft verriegelt und verpestet das öffentliche System
Und das ist auch schon das Ende der Kultur! Denn der neue Kulturminister,
der eben vielleicht noch Bürgermeister von Lourdes oder der billig
abgespeiste Konkurrent für ein umworbeneres Ministerium war und
selbstverständlich nicht die Spur einer Ahnung von Architektur,
Musik oder Malerei hat, ist keineswegs Minister der Kultur, die ja ein
überparteiliches Erbe der Menschheit ist, er ist vor allem Minister
einer Partei. Als solcher ist es für ihn abwegig, die frei werdenden
Posten an die Berufenen, die er ohnehin nicht kennt, zu vergeben, er
muss erst die Parteifreunde, Trittbrettfahrer und Stiefelputzer beerben,
die seiner Karriere nützlich waren oder werden könnten. Vielleicht
kann er auch, wie geschehen, eine schöne Schauspielerin in seine
Dienstwohnung einladen und ihr sein neues Schlafzimmer zeigen. Ansonsten
sind die Posten sein Kapital.
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Er besetzt die Museen, den Denkmalschutz, die Kulturzentren mit Weggefährten
oder Chargen, die gleichfalls nichts von Kunst verstehen (und die armen
Künstler verachten, die die Vorzimmerstühle durchsitzen und
unaufhörlich um Subventionen betteln), aber gern auf mondäne
Empfänge gehen, schwarzen Kaviar verschlingen und sich kostenlos
zu den Premieren einladen.
Eben darum gibt es in Frankreich seit 20 Jahren kein berühmtes
Orchester, keine international anerkannte Oper, kein interessantes Theater
mehr, zu dem noch irgendein neugieriger ausländischer Kritiker
anreist. Aber das System erhält sich von selbst, es braucht keine
Zustimmung. Und die Zeitungen? Je nachdem, da das Ministerium ja links
oder rechts ist, linke oder rechte Hofberichterstattung! Besser als
das Kulturministerium, das ja bekanntlich eine Erfindung von Goebbels
ist, zu reformieren, wäre, es zusammen mit den genannten Eliteschulen
in die Luft zu jagen; dann könnte man hierzulande viel besser atmen
und würde, bei null anfangend, sehen, wer wirklich etwas kann.
Es gibt drei Arten, in Frankreich Karriere zu machen: in die richtige
Familie hineingeboren zu werden, reich zu sein, der herrschenden Partei
anzugehören. Sonst gibt es noch eine vierte Art: die Prostitution.
Nein zur Gleichheit der Chancen! Nein zur Nominierung des Fähigsten!
Nein zum fairen Kampf um Posten und Arbeitsplätze! Nein, nein und
nochmals nein! Nun gut, könnte man sagen, wenn es schon in den
staatlichen Institutionen für einen einfachen Menschen ohne Beziehungen
kein Durchkommen gibt, warum es dann nicht einfach in der freien kapitalistischen
Konkurrenzgesellschaft versuchen? Weil sie nicht frei ist! Es ist unmöglich,
dieses Kapitel über die allen Enthusiasmus erstickenden Institutionen
Frankreichs abzuschließen, ohne über ein Phänomen zu
sprechen, das zwar so alt ist wie die Menschheit selbst, das aber hierzulande
seit einigen Jahren exzessiv beunruhigende Formen angenommen hat: der
Nepotismus. Es ist heute so weit gekommen, dass man nicht nur die gut
bezahlten Posten in der Industrie unter Familienmitgliedern weiterreicht,
sondern dass eine Putzfrau auf dem Lande die Fürsprache eines Cousins
braucht, um im Rathaus angestellt zu werden. Es hat gewiss mit dem Mangel
an Arbeitsplätzen zu tun, der dazu führt, dass man die Mitglieder
seiner Familie nicht der freien Konkurrenz des Marktes aussetzen möchte,
aber es ist leider exakt von einer schleichenden Refeudalisierung der
Gesellschaft zu sprechen. Wir sehen im öffentlichen Leben ständig
Söhne, Schwestern, Nichten und Tanten von berühmten Leuten,
deren einziges Verdienst darin besteht, einen berühmten Nachnamen
und mit Hilfe eines »Negers« ein zum Bestseller bestimmtes
Buch verfasst zu haben, in dem sie beschreiben, wie man sie schlug,
vergewaltigte, adoptierte. Auf den Filmplakaten stehen bekannte Namen,
zu denen unbekannte Vornamen gehören, bei denen man sich fragt:
Ist es die Cousine, der Neffe, der Urenkel?
Das gesamte öffentliche System ist vom Nepotismus verpestet und
verriegelt. Wer huscht über den Laufsteg? Die Tochter des neuen
Premierministers. Wer war an der Spitze der Hitliste? Die Prinzessin
von Monaco.
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