Verortet und fixiert.
Zu den Börsenarbeiten von Rudolf Bonvie
Thomas Seelig

Es begab sich Ende der 90er Jahre, auf dem Höhenflug der Volksaktien, dass junge wie etablierte Künstler auf Ausstellungseröffnungen über Ihre angehäuften Aktiendepots berichteten. Morgens schnell die aktuellen Börsenentwicklungen gecheckt, machte man sich dann auf den Weg ins Atelier. Diese Form der Alltags- und Altersvorsorge litt spätestens nach dem Zusammenbruch des Neuen Markts, aber vor allem nach dem 11. September 2001 unter enormen Vertrauensschwund.
Dennoch hat die Zeit der explodierenden Kurssteigerungen von Firmen, deren Namen und Geschäftsfelder wir nicht kennen, des Aufstiegs und Falls der Telekomaktien usw. uns alle zu imaginären Kleinaktionären gemacht. Noch vor einigen Jahren war es nicht vorstellbar, dass vor der Tagesschau, zur unbezahlbaren Prime-Time, über das aktuelle Börsengeschehen informiert worden wäre. Unvorstellbar in der heutigen Zeit, nicht zu wissen, welcher Firma durch Analysten vor "Halbjahrespressekonferenzen" eine helle oder eine dunkle Zukunft vorhergesagt wird. Der Handel mit Aktien und Wertpapieren ist am Jahrtausendwechsel zum Alltagsgeschäft geworden, bei dem es - so war es eigentlich schon immer - viel um Rationalität und Wissen, auf der anderen Seite aber auch um Psychologie, um Glauben und Hoffnung geht.
Ein Jahr nach Zusammenbruch des Neuen Markts verbringt Rudolf Bonvie im Frühjahr 2001 einige Tage im südfranzösischen Carqueiranne.
Er liest täglich die dortige Zeitung "Nice Matin" und verfolgt auf den Wirtschaftsseiten die Entwicklung an den Weltbörsen. Anhand von einfachen Pfeildiagrammen werden die Abschlüsse in New York, Tokio, London oder Frankfurt mit den Ergebnissen des Vortages verglichen und mit "positiv, negativ oder neutral" bewertet.
Der Wirtschaftsteil der Zeitung hält aber noch einen weiteren Service bereit und lässt in den Headlines der Artikel die Gesamtentwicklung des Tages, also die Analyse aller finanzrelevanten Bewegungen weltweit, von einem redaktionellen Mitarbeiter auf ein einziges, griffiges Schlagwort bringen. Mit Blick auf die sprachlichen Reduktion des Redakteurs müsste Rudolf Bonvie in einen Spiegel geschaut haben und umgehend Parallen zu seinem eigenen künstlerischen Werk entdeckt haben. Seit den frühen 80er Jahren flossen bereits Sprachpartikel und zu Wort gewordene Ambivalenzen in Bonvies Arbeiten, teilweise direkt in die Fotografie, teilweise über die Bildtitel konotiert (Mercedogramm, 1986). Dem Weglassen und Verhüllen von Bildteilen durch Collage oder Retusche stand indes einer inhaltlichen Präzisierung durch diese Schritte nichts entgegen. Beispielsweise hatte Bonvie 1986 in einer ähnlichen Anwendung, für die Arbeiten "KSTA I-III, 1986", über einen Monat lang alle Berichte und Kommentare des "Kölner Stadtanzeigers" zusammengefügt und reproduziert, die im direkten Zusammenhang zur Tschernobyl-Katastrophe standen.
Auch "Nicematin, 2001", nun von Bonvie zu einer Fotoarbeit generiert, gewinnt durch seine sorgsam gesetzten Eingriffe. Der Künstler eliminiert alle indexikalischen Hinweise, etwa welche Pfeile stellvertretend für welche Börse stehen oder wie eklatant die Gewinne und Verluste bestimmter Werte sind. Am Ende dieser Reduktion stehen Worthülsen, deren Abfolge sich im Französischen wie ein musikalisch phrasiertes Kurzgedicht liest. Im gemeinsamen Subtext mit den entwerteten Pfeilen erhalten die Schlagwörter "chaotisch", "abbröckelnd", "Aufschwung", "Optimismus" oder "Ruhe" nun eine eigenimmanente Bedeutung.
Verfolgt man die Bildwelten von Rudolf Bonvie über die Jahre, so kann seine Motivation meist an politischen oder moralischen Dimensionen gemessen werden. "Rhapsodie Nucléare, 1987-89" führte einen durchaus ästhetischen Diskurs über die zivile Atomwirtschaft. In "Bill Gates 1-3, 1999" thematisierte der Künstler die Monopolisierung von weltweiten Bildrechten. Phänomene und Ereignisse, die im stetigen Vorwärts, im Kontinuum der Zeit ihre Strahlkraft verlieren, werden von Rudolf Bonvie verortet und fixiert. Dabei sind Massenmedien wie Zeitschriften und Magazine eine schöpferische Quelle, aus denen er sich bildnerisch und inhaltlich bedient. In der Werkreihe der Börsenbilder greift Rudolf Bonvie nun erstmals auf das Internet zurück. Mittels Screenshots adaptiert er Informationen aus dem unendlichen Fundus des Netzes und formt Sinnbilder eines sowohl abstrakten wie pragmatischen Umgangs mit wirtschaftlichem Kapital.
"Börsenarbeit 1(01.02.-28.02.01)" setzt sich auf den ersten Blick aus ungezählten, rasterförmig angeordneten Pfeilen zusammen - positiv grün, negativ rot, neutral grau. Über Wochen "fotografiert" Bonvie die Entwicklungen einzelner, von ihm erworbener Aktien und Indizes, die für das Bild durch das Löschen aller Informationen vom wirtschaftlichen Inhalten befreit werden. Seine Auswahlkriterien bezog Bonvie dabei aus einschlägigen Wirtschaftszeitungen, respektive deren Homepages, zwei Online-Brockern, sowie den Finanzseiten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Wie andere Anleger auch versucht Bonvie, sich ein möglichst breites Bild vom Markt zu machen.
In "Börsenarbeit 3 (20.02.-07.03.01)" wählt Bonvie eine andere Darstellung. In dieser Variante dominieren die komplementär gefassten Balkendiagramme in Rot und Grün gegenüber dem hellgelben Bildgrund. Jenseits der von Bonvie konstruierten Versuchsanordnungen wird die Bildleistung auch hier durch das wirtschaftliche Geschehen komplett fremdbestimmt. Im Selbstversuch liefert sich Bonvie in aller Konsequenz dem Lauf der Dinge aus und verwaltet, den "Datepaintings" von On Kawara ähnlich, die sich ergebenden Parameter.
Ein beredtes Beispiel wirtschaftlicher Rezession findet sich auch in den drei "Handelblattarbeiten 1-3, 2001". Rudolf Bonvie sammelt hier die täglich geschalteten Bildschirmillustrationen auf der Startseite der Handelblatt-Homepage und bringt diese in eine bildnerischen All-Over-Anordnung.
Wie auf einer Zeitachse kann man die teilweise dramatischen Börsengeschehnisse des vergangenen Jahres ablesen, ausgelöst beispielsweise durch den Afganistankrieg oder durch andere weltpolitische Ereignisse wie der Einführung des Euro etc. Bonvie's Arbeiten fixieren den Anspruch, jeder Information eine abstrakte Verarbeitung entgegenzusetzen. Einige Logovarianten sind überaus konkret und markant und rufen längst verdrängte Assoziationen wach. Dem Rauschen der Überinformation können aber auch sie nicht entrinnen.

Die Stimmen auf den Eröffnungen, sie schweigen.