Das Querformat begegnet schon in Bonvies Frühwerk als Verblendung von Porträts in Form schwarzer horizontaler Balken, wie sie auch die Presse benutzt, um die Anonymität von Personen zu wahren.(5)Während das Querformat der Mauer hier für Grenze und Trennung steht, signalisiert die Vertikale der Säule Öffnung und Freiheit. Die Arbeit kulminiert in der Aufsicht vom Grabmal Mendelssohns, die die dunkelbraune Mitteltafel wie ein heller Streifen vertikal in zwei annähernd gleiche Hälften als Sinnbild der Toleranz teilt.
Der Titel der Arbeit »Mal« umspannt ein Bedeutungsspektrum vom neutralen Kennzeichen oder Merkmal bis zur negativen Konnotation von Makel und Schandmal, aber auch von Erinnerungszeichen und Denkmal. Immer ist das Mal ein Zeichen, das einem ständigen Bedeutungswandel unterliegt, das vereinnahmt und
mißbraucht werden kann.
Rudolf Bonvie führt uns die Veränderung von Wahrnehmung und Wandelbarkeit von Bedeutung vor, wie sie auch in der neueren Denkmalsdebatte berücksichtigt wird. Insbesondere die Diskussion um ein Holocaust-Denkmal in Berlin offenbart das ganze Dilemma einer Nation, die um eine angemessene Form des Gedenkens an die Verbrechen des Staates ringt, in dessen Rechtsnachfolge sie steht.(6)
Die Spannweite der »memoria« reicht von der Erinnerung als dynamisch kreativem Prozeß bis hin zum Gedächtnis als statischem Aufbewahrungsort des Erinnerten. (7) Die Erinnerung zu aktivieren unternimmt Bonvie, indem er vergessene oder verdrängte Verbindungen wiederherstellt. Wie konnte es geschehen, daß in unmittelbarer Nähe des humanistischen Weimar das KZ Buchenwald errichtet wurde? Wie ist es möglich, daß an derselben Stelle, wo Mendelssohn einst eine Mauer überwunden hatte, rund zweihundert Jahre später eine neue errichtet wurde?

Dorothea Zwirner

1 Einen Zusammenhang zwischen den Arbeiten »Vergleich aller einspaltigen Fotografien, die eine Person abbilden« und »Mal« hat bereits S.D. Sauerbier in: Rudolf Bonvie, Ausst.-Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus Munchen 1991 hergestellt.
2 Zur Geschichte des 1943 zerstörten und inzwischen wieder hergerichteten Friedhofes siehe: Ulrich Eckhardt/Andreas Nachama, Jüdische Orte in Berlin. Mit Feuilletons von Heinz Knobloch und Fotografien von Elke Nord, Berlin 1996,S. 15.
3 Ihm hat Lessing in seinem »Nathan der Weise« ein literarisches Denkmal
religiöser Toleranz gesetzt.
4 Den imaginären Geschichtsweg des Moses Mendelssohn vom Hamburger Bahnhof zum Anhalter Bahnhof verfolgt Ulrich Eckhardt, Der Moses Mendelssohn Pfad, hrsg. von der Berliner Festspiele GmbH, Berlin 1987.
5 In seinen neueren Arbeiten greift Bonvie das Balken-Motiv wieder auf, das sich formal auch zu schwarzen Wandflächen verseibständigt.
6 Nachdem die Ausführung des preisgekrönten Entwurfs von Christine Jackob-Marks u.a. zu einem «Denkmal für die ermordeten Juden Europas« 1995 am Veto des Bundeskanzlers gescheitert ist, hat die Berliner Senatsverwaltung für kulturelle Angelegenheiten im Frühjahr 1997 ein Colloquium unter Beteiligung der drei
Auslober und 80 Experten durchgeführt.
7 In einem ähnlichen Spannungsfeld bewegt sich auch die heutige Denkmalsdebatte,
die einer statischen raum- und ortsgebundenen Lösung das dynamische Modell transitorischer, verschwindender oder interaktiver »Gegen-Denkmäler«
entgegensetzt. Vgl. James E. Young, Erinnerung, Gegenerinnerung und das Ende
des Gedenkmonuments im vorliegenden Katalogbuch.